30 Tage in Shanghai während des Covid-19-Ausbruchs

09.03.2020

Unsere Beraterin Amber Jiang und die Projektmanagerin Chris Li aus dem Team von Steinbach & Partner Shanghai berichten uns ihre Erfahrungen aus dem täglichen Leben in Shanghai, wo das Coronavirus seit Ende Januar beispiellose Auswirkungen auf alle Aspekte des Alltags und der Wirtschaft hat.

Seit wann hat Covid-19 euer Leben direkt beeinflusst?

Amber: Ich habe um Weihnachten zum ersten Mal von dieser mysteriösen Krankheit gehört, die mit einem Fischmarkt in Wuhan zusammenhängt, aber ich habe zunächst nicht besonders darauf geachtet, da es damals nur wenige Fälle gab. Einige Wochen später begann ich mir Sorgen über die Entwicklung zu machen, weil die chinesischen Neujahrsfeiertage vor der Tür standen und die Zahl der Fälle zu steigen begann. In Shanghai wurde viel darüber gesprochen, weil der Reiseansturm anlässlich des Frühlingsfestes bereits begonnen hatte. Schlechte Voraussetzungen, um ein Virus einzudämmen. Am 23. Januar ging ich nach der Arbeit zum Bahnhof, um in meine Heimatstadt (ca. 160 km von Shanghai entfernt) zu fahren. Dann hörten wir von der Sperrung in Wuhan, also nahm ich den Rat meiner Chefin an, änderte den Plan in der letzten Minute und buchte ein Taxi anstatt den überfüllten Zug zu nehmen.

Am nächsten Tag war der Chinese-New-Year-Abend. Ich hatte zunächst Bedenken, am traditionellen Abendessen teilzunehmen, bei dem in unserer Familie mehr als 30 Personen in einem Raum essen und endlose Gerichte teilen. Es war das Ereignis, auf das ich mich am meisten gefreut habe, als ich jung war; jetzt klang es nicht sicher. Meine Eltern jedoch zögerten keine Sekunde und veranstalteten es trotzdem, denn für sie ist es immer noch DIE Zeit für das Wiedersehen von Familien und Freunden. Silvester-Dinnerpartys oder Versammlungen jeglicher Art waren in Wuhan verboten und sind es immer noch, denke ich.

Chris: Ursprünglich plante ich einen Familienurlaub in Fuzhou (4 Stunden mit dem Schnellzug von Shanghai) für die chinesischen Neujahrsferien. Fünf Tage vor meiner Abreise, um den 20. Januar herum, sah die Situation landesweit ernst aus. Ich zögerte einen Tag und beschloss dann, die Reise abzusagen. Bis dahin waren in den Online- und Offline-Apotheken Handwischtücher, Gesichtsmasken und Desinfektionsmittel ausverkauft.

Der 23. Januar war der letzte übliche Arbeitstag. Seitdem habe ich fast 36 Tage zu Hause verbracht. Es ist wirklich ein großes soziales Experiment: Wie lange können Menschen in ihrer Wohnung bleiben, ohne verrückt zu werden?

 Wie war eure emotionale Reaktion auf die Situation? Hat sie sich im Laufe der Zeit geändert?

Amber: Da sind große emotionale Schwankungen und gemischte Gefühle. Zunächst bekam ich Panik, besonders wenn ich keine weiteren Masken oder Desinfektionsprodukte bekommen konnte. Im Laufe der Zeit wurden jeden Tag verheerendere Nachrichten und herzzerreißende Geschichten über Menschen und Familien bekannt, die unter allen möglichen Schwierigkeiten leiden. Ich war sehr traurig, glücklicherweise sind wir stark genug, um einer solchen Katastrophe zu begegnen. Mehr als 30.000 medizinische Mitarbeiter in ganz China haben sich in Hubei versammelt, und viele Länder wie Japan bieten ebenfalls Hilfe und Unterstützung an.

Ich bin sehr dankbar, dass bisher niemand, den ich kenne, am Virus erkrankt ist, aber irgendwann war ich frustriert, warum und wie dies nach SARS wieder passieren konnte. Ich dachte, wir sind jetzt viel weiter entwickelt, aber offensichtlich haben sich viele Dinge nicht so sehr geändert. Wir könnten die Krise immer wieder erleben, wenn wir die Lücken in bestehenden Systemen nicht schließen oder neue Systeme einrichten.

Chris: In den ersten 10 Tagen hatte ich eine eher düstere Stimmung, weil es immer nur schlechte Nachrichten gab. Bestätigte und vermutete Fälle wuchsen jeden Tag um Tausende. Social Media hatte eine überwiegend traurige, wütende und ängstliche Grundstimmung. Man konnte nicht anders als immer alle Nachrichten und Medien zu verfolgen.

Ich wurde auch sehr unruhig und gereizt. Ich stellte fest, dass meine Nachbarin wochenlang wiederholt dieselben Stücke auf ihrem Klavier spielt. Es war für alle nicht einfach.

In den letzten zwei Wochen haben sich die Dinge langsam geändert. Weitere Patienten wurden geheilt und aus dem Krankenhaus entlassen. Viele Diskussionen verlagern sich nun auf das Arbeiten und die Schaffung einer neuen Normalität. Das bringt eine willkommene Abwechslung.

Wie hat sich das Reiseverbot und die Quarantänerichtlinien bisher auf euch ausgewirkt?

Amber: Ich bin am letzten Tag im Januar nach Shanghai zurückgekehrt, obwohl die Regierung die Verlängerung des Urlaubs auf den 2. Februar angekündigt hat. Ich wusste nicht, dass ich zur Selbstquarantäne aufgefordert werden würde, bis die Mitglieder des Nachbarschaftskomitees an meine Tür klopften, um zu überprüfen, wann und wie ich in Shanghai ankam. Sie wirkten nett, aber bestimmt, und sagten mir, ich solle 14 Tage zu Hause bleiben, außer um das Nötigste zu besorgen.

Aber ich bemerkte, dass meine Nachbarn, die aus der Provinz Hunan (nicht Hubei) zurückkamen, vom Komitee streng überwacht werden. Jeden Tag kommt sogar jemand an ihre Tür, um die Müllsäcke abzuholen. Sie dürfen ihre Wohnung überhaupt nicht verlassen, das macht mich etwas nervös.

Chris: Ich wurde nicht vom Nachbarschaftskomitee in die Quarantäne gezwungen, aber ich habe mich isoliert, um mich von Menschenmassen fernzuhalten. Es gibt keinen Ort, an den man gehen könnte - alle öffentlichen Orte sind geschlossen (Fitnessstudios, Restaurants, Parks). An den Autobahnen wurden Kontrollpunkte aufgestellt. Es war unwirklich zu sehen, wie die Megacity Shanghai zu einer Geisterstadt wurde.

Ich habe in meiner Gegend Autos mit Nummernschildern von Hubei (die Provinz des Epizentrums) gesehen. Die Eigentümer befestigten große Schilder unter den Scheibenwischern, um ihren verängstigten Nachbarn ihre Reisegeschichte zu erklären. Es gab auch einen wahnsinnigen Ansturm in den Onlineshops, um ein Zeitfenster für die Lieferung von Lebensmitteln zu ergattern. Die Kapazität ist inzwischen langsam verbessert worden.

Wie verbringt ihr die Zeit zu Hause?

Amber: Es ist so, wie man es sich vorstellt: Das Smartphone ist sehr sehr wichtig geworden. Ich habe viele Podcasts abonniert, die ich sehr gerne höre. Ich habe gerade einen eindrucksvollen und faszinierenden Roman über die Bewältigung einer tödlichen Infektion aus China gelesen, das Buch „Severance“ des chinesisch-amerikanischen Autors Ling Ma. Und da mein Trainer immer noch in seiner Heimatstadt festsitzt, habe ich das Muskelaufbau-Training auf ein traditionelles chinesisches Schema umgestellt: Qigong-Übungen in acht Abschnitten!

Chris: Livestreams und Online-Fitness - es war großartig, meine Bekannten aus Fitness- und Tanzaktivitäten auf dem Bildschirm mit ihren Alias-Namen zu entdecken, wenn sie ebenfalls online waren und sich fit halten wollten. Ich las mehr und verfolgte das Australian Open-Tennisturnier.

Berichtet uns, wie ihr in der Zwischenzeit gearbeitet habt.

Amber: Ein großartiger Aspekt unserer Arbeit ist, dass ein Großteil aus der Ferne erledigt werden kann. Dank moderner Technologie können wir Informationen in Echtzeit austauschen. Zum Beispiel hatten wir einige Videointerviews, in denen Kunden in Deutschland, Kandidaten in Suzhou und ich zu Hause in Shanghai zusammenkamen.

Und in unseren Projekten dreht sich alles um Menschen, auch wenn sie sich nicht persönlich treffen können. Wir loggen uns nur ein und können mit ihnen auf WeChat oder LinkedIn alles teilen. Das ist effizient und hilft mir bei der Arbeit. Ich schätze das sehr.

Chris: Für mich ist die Denkweise und das gegenseitige Vertrauen, das bei der Arbeit aus dem Homeoffice notwendig ist, genauso wichtig wie die cloud-basierten Daten-, Laptop und Kommunikationssoftware, die das alles technisch ermöglichen. Wir haben das Glück, all dies aus unserer Berufspraxis bereits zu kennen. Meine Mutter hat in ihrer gesamten Karriere noch nie von zu Hause aus gearbeitet, jetzt muss sie es. An manchen Tagen teilen wir uns den Küchentisch und die Steckdosenleiste, was ungewohnt, aber irgendwie sehr nett ist.

Die Situation zu erklären, warum nicht im Büro ist, und wie sich alles entwickelt, ist im Moment auch ein wunderbares Thema um Gespräche zu eröffnen, die sonst über Videokonferenz oder Telefon eher unpersönlich starten würden.

Welchen Rat habt ihr für Personen, die möglicherweise in eine ähnliche Situation in der Quarantäne kommen?

Amber: Wenn Sie längere Zeit zu Hause bleiben müssen, ist es vielleicht das erste, aufzulisten was Sie brauchen, und Lebensmittel und andere Vorräte aufzufüllen. Aber wenn Sie etwas vergessen, ist es nicht das Ende der Welt. Sie sollten sicherstellen, dass jemand dringende Besorgungen für Sie erledigen kann. Die andere Sache ist, nicht die ganze Zeit zu sitzen oder sich hinzulegen. Tägliche Bewegung ist so wichtig für Ihren Körper und Ihre Seele und auch dafür, das Virus zu besiegen, wenn man es bekommen sollte.

Chris: Haben Sie eine Art Mission und finden Sie eine tägliche Routine. Nutzen Sie dies als Gelegenheit, um neue Dinge auszuprobieren. Bleiben Sie in Verbindung mit Ihrer eigenen Gesundheit und den Menschen in Ihrer Umgebung und bereiten Sie die Medikamentenversorgung für chronische Krankheiten vor. Es ist eine großartige Gelegenheit, Ihre Speisekammer zu reinigen oder Ihren Dachboden zu sortieren.

Was lernt ihr aus dieser Erfahrung?

Amber: "Kein Mensch ist eine Insel." Da die Welt ein integrales Ganzes und stark vernetzt ist, haben wir ein gemeinsames Schicksal. Das Virus beurteilt oder diskriminiert nicht, sondern betrifft uns alle. Wenn es uns verbinden kann, dann können das noch besser Mitgefühl und Liebe.

Chris: Ich denke, dies ist mehr als alles andere ein Test für unsere kreative Kraftreserve. Wir sind gezwungen, uns neue Wege auszudenken, um zu arbeiten, fit zu bleiben, virtuell Kontakte zu knüpfen, zu kochen, notfalls provisorische Gesichtsbedeckungen zu basteln und unsere eigene Routine in dem kleinen physischen Raum zu finden. Ich habe erkannt, welche Aktivitäten ich mehr vermisse als andere. Man entwickelt auch mehr Geduld mit sich selbst.

Eine Sache, auf die ihr euch freut, wenn die sich die Wolken morgen verzogen haben.

Amber: Unsere Familienreise, obwohl wir das wahrscheinlich so bald nicht schaffen werden. Es wurden Flüge abgesagt und jetzt gibt es viele bestätigte Fälle in Europa. Wir werden auf den Tag warten, an dem wir unsere Masken abnehmen und den Airbnb-Gastgeber begrüßen und uns gegenseitig umarmen können.

Chris: Ein schönes Essen mit Freunden, von Angesicht zu Angesicht, und dann zum Eason Chan Live-Konzert.